Kennst du die Geschichte von den zwei 70jährigen, die sich für einen Sprachkurs an der Migros-Klubschule eintragen? Sie besuchen den «Anfängerkurs Mandarin». (In Deutschland würde man wohl zur Volkshochschule gehen.)
Dazu muss man wissen, dass Mandarin eine der schwersten Sprachen der Welt ist. Die Sprache gilt als schwer zu lernen, weil sie sehr reich an Redewendungen und Aphorismen ist. Und es gibt viele gleichklingende Wörter mit völlig unterschiedlicher Bedeutung.
Die nächsten Monate gehen die beiden Freunde jeden Dienstag und Donnerstag in den Kurs. Doch nach ungefähr einem halben Jahr zeigte sich zwischen den beiden ein deutlicher Unterschied in ihrem Sprachniveau:
Peter fühlte sich in den Grundlagen festgefahren und konnte sich nur schwer verständigen. Langsam wurde er frustriert und unmotiviert, hatte er doch so viel Fleiss und Mühe in diesen Kurs gesteckt.
Und Paul? Er verbessert sich Tag für Tag und kann sich bereits in den Basics verständigen. Seine Aussprache und sein Wortschatz sind für diese kurze Zeit sehr beeindruckend. Und Paul fühlt sich motiviert und voller Energie, diese Sprache weiter zu entdecken.
Was war passiert?
Paul ist super motiviert, Mandarin zu lernen. Er hat seit einem Jahr eine chinesische Freundin. Die Liebe zu ihr und der Wunsch, sich in ihrer Muttersprache ausdrücken zu können, treiben ihn innerlich voller Freude an, unermüdlich zu lernen und dranzubleiben.
Jetzt denkst du vielleicht: «Gääähnnnn…. Ist ja nur eine Geschichte. In der Realität passiert das doch fast nie!». Doch ich habe gestern genau diese Geschichte live erleben können:
Durch Zufall habe ich nach vielen Jahren meine Dozentin aus dem Masterstudium wiedergetroffen. Ihr Leben hat sich sehr verändert: Inzwischen ist sie pensioniert und ihre Lebensumstände sind andere. Jetzt hat sie sich entschieden, in einem Wohnprojekt für die dritte Lebensphase zu leben. Das besondere an diesem Ort ist: die 65 Bewohner:innen sind sich einig, dass sie ihr gemeinsames Leben selbstorganisiert gestalten und anpacken wollen.
Doch wie das ganz praktisch und im Alltag funktioniert, das weiss keine:r so genau. Denn die meisten von ihnen haben wenig Erfahrung mit Selbstorganisation und partizipativen Prozessen. Und jetzt, nach einigen Monaten des Zusammenlebens, machen sich erste Unstimmigkeiten bemerkbar: Wie können wir gerecht entscheiden? Wie funktioniert unsere Kommunikation, dass sich jede:r abgeholt fühlt? Was sind meine Verantwortung und was meine Kompetenzen? Wie gehen wir mit Unstimmigkeiten und Konflikten um?
So haben die Bewohner:innen entschieden: «Wir wollen genau wissen, wie Selbstorganisation und Partizipation funktionieren!» Also haben wir gestern einen Tag in Selbstorganisation und Partizipation miteinander verbracht und die ganz konkreten Fragestellungen, die die Gemeinschaft gerade bewegt, zusammen bearbeitet. Und zwar mit der gleichen Haltung und den gleichen Methoden und Interventionen, die ich sonst auch in meinem Alltag verwende:
- Check-In
- Working Agreements
- 1-2-4-All
- World Café (mein Können frisch aufpoliert beim Seminar letzte Woche💪 Merci, liebe Myriam🙏)
- Systemisches Konsensieren
- Retrospektive
- Check-Out
Und DAS Erfolgserlebnis des Tages war: In
- 11 Minuten haben
- 51 Bewohner:innen
- 4 zukunftsorientierte Entscheide getroffen, für die
- 18 Menschen persönlich Umsetzungsverantwortung übernommen haben.
Diese neue Erfahrung, dass andere Formen als Diskussion und Mehrheitsabstimmung ihrer Lebensform viel näher sind, hat eine ungeheure Energie in der Gruppe freigesetzt. Es lag Freude im Raum. Und Zuversicht. Und dass trotz dem grossen Berg an Aufgaben und Lernfeldern, die sie nun Schritt für Schritt anpacken werden.
Das war ein bemerkenswerter Tag! Für die Bewohner:innen. Und für mich. Der wieder zeigt: Bin ich motiviert und interessiert, etwas zum Besseren zu verändern, entwickle ich Superkräfte! Habe ich selber gerade wieder erleben dürfen🙏
Neugierige Grüsse,
Was sind deine Gedanken und Erfahrungen? Lass es mich wissen und wir bleiben im Gespräch: franziska.gottschalk(at)all-dimensions.com