Sehen und gesehen werden

Myriam Mathys
·
16. Januar 2024
business executives interacting with each other

Ich meine nicht das oberflächliche «Ich war auch da und habe andere gesehen bzw. wurde gesehen…». Ich meine wirklich sehen und wirklich gesehen werden.

Das habe ich gerade selbst wieder erlebt: im Vorbereitungskreis für unser Lernforum, das ich jährlich zusammen mit meinen Kooperationspartnern Matthias und Jutta in Oberursel ausrichte. Wir nehmen uns jeweils Zeit, um uns kurz vor Beginn der Veranstaltung mit allen Akteuren in einem «Speaking Circle» zu verbinden. Das geht so, dass man – der Reihe nach – von allen anderen einfach nur mit voller Aufmerksamkeit angeschaut wird. Und seine eigenen Blicke in den Augen der anderen ruhen lassen kann. Sehen, wie einen die anderen ohne Unterbruch ansehen: Das erzeugt ein Gefühl von Gesehen werden. Und in einer zweiten Runde können dann aus einem Gefühl der Verbundenheit heraus allenfalls auch Worte ausgesprochen werden, die in einem aufsteigen…

Warum ist dies so wirkungsvoll? Weil gesehen zu werden, eines unserer ur-menschlichsten Bedürfnisse ist.

Das Gefühl, ganz gesehen zu werden, ist auch eng mit der Erfahrung verbunden, tatsächlich gehört zu werden. Dass andere sich das anhören, was mir persönlich wirklich wichtig ist.
Sehr eindrücklich war für mich in diesem Zusammenhang eine Erfahrung, die ich im Rahmen eines Bürgerrates, den ich als Dynamic Facilitation-Expertin vor einiger Zeit in Berlin moderiert hatte, gemacht habe: ein aufgebrachter AfD-Anhänger, dem ich in meiner Rolle als Facilitatorin ausnehmend gut zuhörte (und wie es die Methode will, dessen Aussagen ich an verschiedenen Flipcharts für alle sichtbar festhielt), beruhigte sich zusehends: endlich interessierte sich mal jemand für das, was er zu sagen hatte, und hörte ihm wirklich zu! Er war gesehen und gehört worden und konnte dann «befriedet» in der Gruppe mittun.

Ja, es braucht Raum und Zeit, um andere zu sehen und um ihnen zuzuhören. – Gönnen wir uns diesen Raum und diese Zeit!

Dass man uns sehen kann, setzt aber auch voraus, dass wir bereit sind, uns zeigen. Mit all unserer Verletzlichkeit. Aber auch mit all unserem Strahlen. Ich war letzte Woche an der Jahrestagung des OE Forums Schweiz. Im Kreis von anderen Menschen, die sich beruflich wie ich auch für Organisationsentwicklung interessieren, «gehen manchmal die Pferde mit mir durch» und ich erzähle von meinen «Heldinnengeschichten». Will heissen, von meinen grössten beruflichen Herausforderungen und meinen grössten Erfolgen, was meist zusammenhängt. Einfach, weil ich mich immer noch darüber freuen kann, dass mir da und dort etwas ganz Wunderbares gelungen ist.
Und es ist wirklich schön, sich da und dort ganz unvermittelt in den Augen eines interessierten Gegenübers leuchtend widerspiegelt zu sehen… Und warum eigentlich nicht? Es heisst ja schon in der Bibel, dass man sein Licht nicht unter einen Scheffel stellen soll. Und zwar, weil man sonst den anderen das Licht vorenthält und keine «Funken» überspringen können.

Nur, wenn wir bereit sind, uns gegenseitig unser Leuchten zu zeigen, können wir uns im besten Fall auch gegenseitig inspirieren.

Und schliesslich gibt es noch einen weiteren, vielleicht der zentralste Aspekt des Gesehenwerdens: Es lässt es uns wachsen, wenn wir so gesehen werden, wie wir sein könnten.
Und was gibt es Schöneres, als andere bei ihrem eigenen Wachstum zu unterstützen. Und das ganz ohne, dass es dafür von uns irgendeine Anstrengung bräuchte. Sondern einfach nur, indem wir jemanden ganz sehen: mit dem Offensichtlichen und dem (noch) nicht mit den Augen Sichtbaren.

Herzliche Grüsse,

Myriam
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