Schubladisierte Erinnerungen

Myriam Mathys
·
15. Februar 2024
Schubladisierte Erinnerungen

Dank Corona lerne seit fast 3 Jahren täglich mit einer App Sprachen. Zuerst war es Spanisch, was ich vorher noch überhaupt nicht konnte. Und als ich diesen Grundlagenkurs durchhatte, dachte ich mir, dass es sicher nicht schaden könnte, mich nun auch nochmal mit Französisch zu beschäftigen. Ich fand das zwar schon immer eine schöne Sprache, aber trotz 6 ½ Jahren Französisch-Unterricht bin ich damit nie auf einen grünen Zweig gekommen. Will heissen: Verstehen konnte ich Französisch eigentlich nach Ende der Schulzeit ziemlich gut, aber mein aktiver Wortschatz war mehr als bescheiden. Kein Wunder, da unsere Französischlehrerin (die ich übrigens eine ganz tolle Frau fand) während der ganzen Zeit nie den Nerv hatte zu warten, bis ich einen ganzen Satz auf Französisch «rausgebröselt» hatte, sondern immer gleich jemand anderen drannahm.

Und nun kommt’s: Ich habe mit meiner App nicht nur bereits viel besser Französisch schreiben und sprechen gelernt, sondern auch erlebt, wie Erinnerungen an ganz konkrete Unterrichtssituationen von damals plötzlich wieder völlig präsent waren. Nachdem diese Erinnerungen mehrere Jahrzehnte in einer Schublade ganz weit hinten im Hirn eingelagert waren. Aber solche Erinnerungen sind doch immer noch da… – ich finde das unglaublich!

Manchmal geht es mir auch so, dass bei mir plötzlich Aha-Erlebnisse aus einer «anderen Zeit» wieder aufblitzen. Persönliche Erkenntnisse, an die ich schon seit vielen Jahren nicht mehr dachte. Und eine davon möchte ich jetzt mich euch teilen, da ich denke, dass diese vielleicht auch für andere wichtig sein könnte.

Meine Kollegin Franziska erzählt mir kürzlich von einer Kundensituation, die mir unvermittelt den Begriff «the toxic handler» wieder ins Gedächtnis zurückbrachte. Als ich damals den entsprechenden Artikel in der Harvard Business Revue* gelesen hatte, war mir plötzlich klar, was mit mir als Führungsverantwortlicher selbst passiert war: Es kann zwar durchaus gelingen, das eigene Team von einem toxischen Umfeld abzuschirmen, so dass es allen Teammitgliedern gut geht und das Team auch in einem schwierigen Unternehmen zu Höchstleistungen fähig ist. Aber die betreffende Führungskraft bekommt dabei das ganze Gift ab… – und das kann auf die Dauer krank machen. Gerade Idealist:innen sind gefährdet.

Das gilt übrigens auch für Mandate. Am Anfang meiner Beratungstätigkeit habe ich mir immer gesagt: Solange ich das Gefühl habe, der Kunde kommt dank meiner Unterstützung auch nur einen Schritt weiter, dann übernehme ich den Auftrag. Ja, natürlich habe ich auch Mandate abgelehnt, bei denen ich fand, das soll jetzt wohl nur eine reine Alibi- oder Bespassungs-Aktion werden. Aber eben: es gab Mandate, bei denen ich in einem so toxischen Umfeld gearbeitet habe, dass mich dies sehr viel Kraft gekostet hat.
Es gab z.B. mal eine Situation, wo der CEO sowie die Abteilungs- und Teamleiter eine konkrete Weiterentwicklung wollten, aber der betreffende Bereichsleiter dazwischen das ganze Projekt  sabotierte. Was habe ich dort doch für Kämpfe ausgefochten, die eigentlich gar nicht meine waren!

Rückblickend weiss ich, dass ich so ein Mandat hätte zurückgeben müssen – oder zumindest das Thema an oberster Stelle ansprechen. Und nicht einfach nur durchbeissen!

Auch solche Erinnerungen an Situationen, die einem nicht gutgetan haben, sind also noch da – auch wenn man sie vermeintlich längst «vergessen» hat. Ein Stichwort genügt und alles ist wieder präsent…

In einem toxischen Umfeld arbeiten mag ich nicht mehr. Wie gut, dass ich diese Klarheit irgendwann gewonnen habe! – Und wenn mehr Menschen dies verweigern würden, dann gäbe es ja vielleicht irgendwann gar keine toxischen Unternehmen mehr…

Herzliche Grüsse,

Myriam

*The Toxic Handler: Organizational Hero—and Casualty (hbr.org)

Nach oben scrollen