Akku leer

Franziska Gottschalk
·
24. Oktober 2023
akku leer machen ist wie wollen 1100

Miuccia ist Kosmetikerin. Jung. Aufgestellt. Ambitioniert. Seit Anfang zwanzig bereits Salon-Leiterin mit 10 Mitarbeitenden und Lernenden. Viel Verantwortung für Menschen und Umsatz.

Heute hat Miuccia tiefe Augenringe. Und ich frage: «Geht es dir gut?». Und bei ihrer Antwort strahlt sie auf einmal über das ganze Gesicht: «Franziska, ich habe gekündigt!»

Das habe ich nicht kommen sehen: Was ist passiert?

Als sie vor 5 Jahren die Führungsrolle übernahm, stand es mit dem Salon nicht zum Besten. Das Arbeitsklima unter den Mitarbeitenden war geprägt von einer «laissez-faire»-Mentalität und Missgunst. Der Salon war wenig einladend. Es gab eine hohe Mitarbeitenden-Fluktuation. Die Kund:innen blieben weg.

Doch innert kurzer Zeit nachdem Miuccia die Führung übernommen hatte, konnte ich sogar als Kundin die Veränderungen wahrnehmen und beobachten:

  • Mitarbeiter:innen und Lernende verströmten eine freundliche fröhliche Atmosphäre
  • bei jedem Besuch die gleichen Gesichter: die hohe Fluktuation hatte sich gelegt
  • ein Termin war nicht mehr so einfach zu ergattern: Kund:innen kamen gern und kamen wieder
  • und Miuccia war in ihrem Element: Sie organisierte, delegierte, lehrte und war in ihrer Arbeitsweise allen ein Vorbild

Sie hat viel gegeben, sich engagiert, die Mitarbeitenden involviert. Überzeiten inklusive. Dafür liess das Management sie schalten und walten. Solange der Umsatz stimmt.

Dann kam vor ein paar Monaten ein persönlicher Schicksalsschlag: Eine nahe Angehörige wurde lebensbedrohlich krank. Miuccia und ihre Familie pflegten die junge Frau zu Hause. Nach einigen Wochen suizidierte sich die junge Frau. Und Miuccia fiel in tiefe Trauer. In ein Loch. Akku leer.

Um sich wieder zu erholen, bat sie das Management darum, die nächsten vier Wochen 80% arbeiten zu können.

Die Antwort: NEIN! Auf keinen Fall! Teilzeit gibt es bei uns nicht! Nie!

???

In diesem Ton? In dieser Vehemenz?

Echt jetzt?

???

Und Miuccia? Packte sich am Schopf und zog sich selbst aus ihrem Tief: Eine Freundin erzählte von einer Stelle in der Luxus-Uhrenindustrie. Miuccia wurde prompt zu einem Probetag eingeladen. Und von diesem Probetag kamen die strahlenden Augen als sie mir davon erzählte:

«Franziska, stell‘ dir vor! Ich habe um 8:30 Uhr gestartet und um 9:00 war bereits die erste Pause. Vom Teamleiter wurde ich zu einem Kaffee eingeladen. Und um 12:15 Uhr sogar zum Lunch. Franziska, das musst du gesehen haben! Es gibt ein Sushi-Resto, ein Pasta-Resto, eine Streetfood-Station. Und die wunderschönen Möbel auf der Terrasse erst!

Und um 15:30 Uhr war mein Probetag schon zu Ende. Doch ich sagte: «Ich montiere das Teil noch fertig.» Da war der Teamleiter tief beeindruckt, wobei das für mich doch selbstverständlich ist, meine begonnene Arbeit abzuschliessen. Und weisst du was, Franziska, dann wurde ich für meinen Probeeinsatz sogar entlöhnt!

Franziska, es gibt ein 13. Salär! Und sieben Wochen Ferien anstatt vier! Es wird dieses Jahr das erste Mal seit 15 Jahren sein, dass ich gemeinsam mit meinem Mann Weihnachten feiere. Und meine Familie in Italien freut sich darüber so sehr, dass sie geweint haben, als ich ihnen davon erzählt habe. Sie haben direkt alles organisiert: Am Heiligabend sind wir bei den Schwiegereltern, am 25. Dezember bei der Tante…

Das wird ganz wunderbar! Vielleicht nicht für ewig – aber jetzt erhole ich mich erst einmal!»

Ja, du hast richtig gelesen: Miuccia hat vor, sich bei einem 100% Pensum zu erholen.

Und ja, liebe Miuccia, das glaube ich auch: Wahrscheinlich wirst du nicht für ewig die Uhren-Kleinteile montieren.

Vermutlich wird dir eines Tages der viele Kontakt mit den Menschen fehlen. Und ich kann mir vorstellen, liebe Miuccia, dass dir auch einmal die Leadership fehlen wird – eine deiner grossen Stärken.

Doch jetzt sammelst du erst einmal Kräfte, um deine nächsten Lebensziele in Angriff zu nehmen. Und vielleicht nimmst du Anlauf zu eurer eigenen kleinen Familie? Oder wird dein nächster Schritt ein eigener Salon sein? Oder träumst du von beidem?

Bei deinem bisherigen Arbeitgeber sucht man nun händeringend eine neue Leitung.

Wie einfach hätte es sein können: Sich mit dir zusammen zu setzen, in Ruhe die Bedürfnisse aller Parteien besprechen und gemeinsam eine tragfähige nachhaltige Lösung finden. Mit Respekt und Wertschätzung. Und dein Engagement und Commitment zu deinem Arbeitgeber wären so stark wie nie gewesen.

Diese Chance hat der Arbeitgeber definitiv verpasst! Stattdessen bleiben die starren Regeln bestehen und es gibt wieder eine Fachkraft weniger.

Doch für dich startet jetzt ein neues Kapitel, liebe Miuccia. Mit den allerbesten Wünschen: Auf die Plätze, Kräftesammeln, los!

Neugierige Grüsse,

Franziska

Was sind deine Gedanken und Erfahrungen? Lass es mich wissen und wir bleiben im Gespräch: franziska.gottschalk(at)all-dimensions.com

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